Von Cobaltblau zu Cobaltsulfatrot
Wie aus einem Blaufarbenwerk ein Experte für Metallrecycling wuchs – mehr als 350 Jahre Erfahrung als Fundament. Die Nickelhütte in Aue-Bad Schlema ist ein Metallurgie- und Hüttenbetrieb mit über 400 Mitarbeitern. Sie liegt mitten in der Stadt. Das ist ungewöhnlich in heutigen Zeiten, wo Industrie meist in der Peripherie angesiedelt ist. Aber die enge Nachbarschaft von Bergbau, Industrie und Wohnstätten, das Zusammenspiel von Arbeit, Leben und Kultur ist eine über Jahrhunderte gewachsene, gute Tradition im Erzgebirge. Und die funktioniert an diesem Ort seit 1635. Ohne Unterbrechung. Tatsächlich: Von Aues Altmarkt bis zum westlichen Werkstor der Nickelhütte sind es nur elf Gehminuten. „Als unser Betrieb seine Arbeit 1635 begann, war die Stadt noch weit entfernt“, erzählt Nickelhütte- Geschäftsführer Henry Sobieraj. Aue hatte im selben Jahr vom Sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. gerade erst das Marktrecht erhalten. Da begann hier im Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel die Arbeit. Die Region hatte bis ins 19. Jahrhundert ein weltweites Monopol auf die Produktion von Blaufarbenpigmenten aus Kobalt, die Delfter Kacheln oder Meißner Porzellan zierten. Vier Werke gab es in der Region, eines wurde im Juli 2019 mit der Montanregion Erzgebirge/ Krušnohoří zum Bestandteil des UNESCO-Welterbes ernannt: Schindlers Blaufarbenwerk in Albernau bei Zschorlau, wenige Kilometer von Aue-Bad Schlema entfernt, die Mulde flussaufwärts.
"Es gibt in unserer Branche europaweit nur einen Betrieb, der älter ist als wir."
Die Zeit der blauen Farbpigmente ist zwar vorbei, aber das Mineral Kobalt spielt immer noch eine große Rolle – beim Metallrecycling, dem heutigen Produktionsschwerpunkt der Nickelhütte. Doch dazu später mehr. „Wir haben eine sehr lange Tradition“, erzählt Henry Sobieraj weiter, „es gibt in unserer Branche europaweit nur einen Betrieb, der älter ist als wir, die Montanwerke Brixlegg in Österreich. Durch diese lange Kontinuität sind wir mit der Stadt Aue und dem Erzgebirge so stark verwachsen.“ Er teilt die Freude der Menschen über den Welterbetitel in der grenzübergreifenden sächsisch-böhmischen Region, die stolz sind auf ihre über 800-jährige Bergbauvergangenheit. Zwanzig Jahre hatten deutsche und tschechische Mitstreiter gemeinsam für die Anerkennung als UNESCO-Welterbe gerungen.
„Es ist für die Region eine gute Chance, sich noch besser zu vermarkten. Bisher kennen die Menschen in Deutschland das Erzgebirge vor allem durch den Fußball vom FC Erzgebirge Aue, bei dem auch wir Sponsor sind, und die weihnachtliche Holzkunst. Aber wir haben noch mehr Facetten zu bieten, auch unsere vielfältige Industrie, die aus dem Bergbau gewachsen ist. Um das bekannter zu machen, kann uns der Welterbetitel national und international helfen.“ Die weltweite Kundschaft der Nickelhütte soll das natürlich zukünftig mehr wahrnehmen. Gerade arbeitet das Unternehmen an einem neuen Kommunikationskonzept, in dem das UNESCO-Welterbe auch eine Rolle spielen wird.
Die Basis des Erfolgs: Wandlungsfähigkeit und Innovation
Dass die Nickelhütte noch heute erfolgreich ist, hängt auch damit zusammen, dass es Unternehmern und Arbeitern immer wieder gelungen ist, sich an historischen Wendepunkten durch Innovation anzupassen. Auch schwierige Zeiten wurden gemeistert, wie der wirtschaftliche Wandel nach dem Fall der Mauer. „Die Nickelhütte war 1989/90 unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes für viele Menschen hier in Aue nicht mehr tragbar“, berichtet Sobieraj ernst, „obwohl die Arbeitsplätze dringend gebraucht wurden. Da fanden Demonstrationen in Aue statt. Das haben wir zum Glück überwinden können, indem wir uns umfassend erneuert haben.“ Deshalb sei es die erste Aufgabe gewesen, den Betrieb komplett auf eine neue Grundlage zu stellen: ökologisch und wirtschaftlich. Abgasreinigung, Wasserreinigung, neue Kunden und neue Produkte – das sei ein riesiger finanzieller und personeller Kraftakt gewesen. Geholfen hat dabei ein Partner aus Ennepetal in Nordrhein-Westfalen: die Siegfried Jacob Metallwerke. Bis zum heutigen Tage sind beide Unternehmen in einer Firmengruppe erfolgreich miteinander verbunden.
"Wir beschäftigen uns zunehmend mit der Wiederverwertung von Lithium-Ionen-Akkus"
In Ennepetal begann 1990 auch Henry Sobierajs berufliche Laufbahn. Geboren ist er in Freital im Osterzgebirge. Seit 1996 arbeitet er in der Nickelhütte, im Jahr 2014 berief man ihn hier in die Geschäftsführung. Ist eine Aufgabe geschafft, wartet die nächste Herausforderung. Das kennt man in der Nickelhütte. Aktuell findet in Wirtschaft und Gesellschaft weltweit wieder ein mehrfacher Wandel statt. Die Stichworte Klimaerwärmung, steigendes Umweltbewusstsein, Digitalisierung und Elektromobilität seien tägliches Gespräch in der Nickelhütte: „Wir beschäftigen uns zunehmend mit der Wiederverwertung von Lithium-Ionen-Akkus. Wir tragen als Recyclingbetrieb wesentlich zum ökologischen Umbau unserer Wirtschaft bei.“
Mit der Ausbeutung von Ressourcen kommt der Lebensraum Erde immer mehr an Grenzen: Vorkommen gehen zur Neige, Fördertechnik ist ausgereizt, die gesellschaftliche Akzeptanz des Bergbaus bewegt sich heutzutage in engeren Grenzen.
Buntmetallschmelze seit 150 Jahren
Die Kreislaufwirtschaft sei schon immer grün, meint Sobieraj, sage es nur viel zu wenig selbstbewusst: „Unsere Geschäftsfelder werden wichtiger werden. Allerdings ist unsere Branche wenig sexy, wenn ich das mal so formulieren darf, und hat daher eine relativ geringe Bekanntheit.
"Im Gegensatz zu unserem Image sind wir technologisch sehr modern, bei den Berufen sehr vielfältig."
Zudem fallen Reste von Nicht-Eisen- Metallen überall in der Wirtschaft an. Auch wenn wir eine Nische im Markt besetzen, sind unsere Anwendungsfelder sehr breit, der Bedarf an recycelten Produkten sehr groß.“ Die Kompetenz, Nicht-Eisen-Metalle zu verarbeiten, begann mit der Buntmetallschmelze vor ca. 150 Jahren, als die Fabrikation von Kobaltblau zu Ende gegangen war.
Von A wie Aluminium über K wie Kupfer bis Z wie Zink reichen die Metalle, die hier in der Nickelhütte recycelt werden. Die Aufbereitung von Alt-Aluminium zum Beispiel gelinge ohne Qualitätsverlust, vermindere die Ausbeutung von Bauxit in der Landschaft, spare Energie gegenüber der Verhüttung des Roherzes in der Primärproduktion, erläutert Sobieraj: „Wir sehen auch die Entwicklung im Markt, dass es für viele Firmen bereits ein Verkaufsargument ist, zu sagen: Unsere Produkte enthalten so und so viel Prozent recyceltes Metall.“
Am Thema Elektroauto sind die Auer Spezialisten schon dran, aber hier habe man noch etwas Zeit, meint Sobieraj: „Die große Welle zu recycelnder Lithium- Akkus sehe ich erst in acht bis zehn Jahren auf uns zukommen. Das ergibt sich aus dem Lebenszyklus der Akkus und hängt davon ab, welche Technologien – ob vollelektrischer oder Hybrid-Antrieb oder alternative Brennstoffe – sich mit welchem Marktanteil durchsetzen werden.“ Im Augenblick gäbe es nur Rücklauf in geringen Mengen, größeren Anteil haben Akkus aus Elektronikprodukten oder Reststoffe aus der Produktion.
Know-how ist das Schlüsselwort dieses Unternehmens. Das hat man bei der Nickelhütte über lange Jahre aufgebaut. Momentan verarbeitet man hier ca. 2.500 Tonnen Li-Ionen-Batterien pro Jahr. Durch technologische Innovation und Veränderungen im Produktionsablauf will die Nickelhütte ihre Kapazität bis auf 8.000 Tonnen im Jahr 2020 ausbauen. So ist man gewappnet für den langfristig steigenden Bedarf. „Besser, wir sind frühzeitig vorbereitet“, lautet Sobierajs Maxime. Das ist immer die Philosophie der Nickelhütte gewesen. Sie ist kein kleiner Betrieb, aber auch kein großer. Die Stärke lag immer in der Flexibilität, in der schnellen Reaktionsfähigkeit auf Bedürfnisse am Markt: „Wir können uns schnell in der Produktion umstellen, schnell liefern.“
Engagiert für die Region
Agil zu bleiben, ist die Kernaufgabe der firmeneigenen Abteilung für Forschung und Entwicklung. Ständig sind neue Verfahren der Pyrometallurgie (Schmelzbetrieb mit hohen Temperaturen) und Hydrometallurgie (chemische Verarbeitung in wässriger Lösung) in Erprobung, bestehende in der Optimierung. Die Mitarbeiterschaft ist daher sehr breit aufgestellt, sie umfasst Chemiker, Chemikanten, Chemieanlagenfachleute, Ingenieure, IT-Spezialisten, Kaufleute, Laboranten, Metallfacharbeiter. Nachwuchs wird selbst ausgebildet, auch Quereinsteiger werden gern angelernt. Neue Mitarbeiter sind im wachsenden Unternehmen immer willkommen. „Wir brauchen Arbeitskräfte“, sagt Henry Sobieraj, Regionalentwicklung ist eben keine Einbahnstraße.
„Deshalb müssen wir als Unternehmen auch etwas dafür tun, dass sich die Region gut entwickelt.“
Das Unternehmen profitiert nicht nur von der Region, soziales und kulturelles Engagement im und vom Betrieb nützt auch der Stadt. So entstanden für Aue ein Kino, ein Fitnessstudio, eine Eislaufhalle und eine Bowlingbahn. Unternehmen, Stadt und Umland müssen sich gemeinsam entwickeln, so die Philosophie der Nickelhütte, damit die Region lebenswert bleibt und Menschen anzieht. Aus der früheren Betriebssportgemeinschaft ist inzwischen ein eigenständiger Verein mit 450 Mitgliedern gewachsen. Prominentestes Mitglied der SG Nickelhütte Aue e.V. ist der Skispringer und Teamweltmeister Richard Freitag. Dazu gibt es die Sektionen Handball, Fußball, Taekwondo und Kegeln. Der Sport ist auch ein Bestandteil des sehr umfassenden Gesundheitsmanagements im Betrieb, denn die Arbeit in „rollender Woche“ hier ist körperlich und geistig anspruchsvoll. Die technischen Prozesse laufen rund ums Jahr, sieben Tage die Woche, 24 Stunden. Ein Stopp am Wochenende ist weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Fragt man Henry Sobieraj, was all das Engagement bringe, dann sagt er kurz und knapp: „Elan, Optimismus und gute Ideen.“
Dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter absolute geistige und körperliche Fitness brauchen, wird bei einem Rundgang durch die Nickelhütte schnell klar. In einer Halle werden aus Kupferschrott neue Legierungen geschmolzen. Der Lichtbogenofen mit seinen gewaltigen Elektroden aus Kohlenstoff erzeugt Temperaturen von bis zu 3.000 Grad Celsius. Trotz Schutzkleidung müssen die Kollegen hier einiges aushalten.
Thomas Windisch, Industriemeister für Metall und Abteilungsleiter, bringt hier Schiffsschrauben, Kupferdrähte und Rohrabfälle bei über 1.000 Grad Celsius zum Schmelzen. Die glühend heiße Schmelze wird anschließend in diversen Legierungen auf Kundenwunsch in neue Blöcke gegossen. „Unsere Spezialität sind die vielen verschiedenen Nicht-Eisen-Metalle in unterschiedlichen Zusammensetzungen, etwa Kupfer mit Zinn, Blei, Nickel, Zink oder Aluminium“, erläutert Michael Neumann, technischer Leiter und verantwortlich für Entwicklung, Engineering und Inbetriebnahme technischer Anlagen. Die Prozesse seien ständig in Bewegung, da sich die Zusammensetzung der gelieferten Abfälle permanent ändere, auch die gewünschten Eigenschaften der Rohstoffe würden in hoher Frequenz variieren. Aus kupferhaltigem Altmetall entstehen zum Beispiel neue Bronzen für den Guss von Glocken, Pumpengehäusen, Sanitärarmaturen und Schiffsschrauben.
Der Kreis schließt sich
Die Nickelhütte ist eine wichtige Station im weltweiten Kreislauf der Metallindustrie. Ihr Knowhow ist vor allem Prozesswissen. Insbesondere die Wiederaufbereitung von Lithium-Ionen-Akkus und chemischen Katalysatoren mit Vanadium-Nickel- Kobalt-Kupfer-haltigen Mischrohstoffen erfordern einen mehrstufigen Prozess. Zuerst komme das Ausgangsmaterial, so Michael Neumann, in einen stehenden Ofen oder einen Kurztrommelofen. Darin entstehen dann Verbindungen aus Nickel-Kobalt-Kupfer-Sulfid. Diese gelangen anschließend zur Weiterverarbeitung in die Nasschemie, wo sie unter Zusatz von Wasser und Filtrationschemie weiter aufgespalten werden. Das Ganze muss nicht nur technisch funktionieren, sondern auch sauber und energieeffizient. Die Nasschemie findet in geschlossenen Kreisläufen statt, bei denen nichts verloren geht und nichts in die Umwelt geleitet wird.
Auf die hohen Standards bei der Rauchgasreinigung ist die Nickelhütte stolz: Schadstoffe werden nachverbrannt und Abgase durch eine nasse Rauchgaswäsche mit einem Kreidegemisch entstaubt. Die Abwärme der Schmelzöfen wird zur Stromerzeugung mittels Dampfturbine und zur Wärmezufuhr in die chemischen Prozesse genutzt. Diese Maßnahmen tragen auch zur hohen Akzeptanz des Unternehmens in der Stadt Aue-Bad Schlema bei.
Am Ende des Rundganges bleibt Michael Neumann an einem Förderband stehen und sagt mit wenigen, bedeutsamen Worten: „Hier sind wir wieder beim Ursprung unseres Unternehmens angekommen, beim Mineral Kobalt.“ Allerdings sieht man hier heute nicht ein blaufärbendes Farbpigment, sondern ein rot-braun gefärbtes Kobalt- Sulfat. Es wurde wiedergewonnen aus Batterieschrott und ist Ausgangsstoff zur Herstellung neuer Akkumulatoren. „Wir schließen den Kreislauf“, so lautet ja auch der Firmenslogan.
Text: Carsten Schulz-Nötzold
Fotos: studio2media/Erik Wagler
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